Neugier und Empathie: Warum wir uns füreinander interessieren auf sfb873.de
Neugier und Empathie: Warum wir uns füreinander interessieren

Ein Gespräch beginnt, aber die Fragen bleiben an der Oberfläche. Man begegnet sich, wechselt Worte, doch das Interesse endet oft bei der Wetterlage oder den Nachrichtenüberschriften. In einer Welt, die ununterbrochen kommuniziert, scheint das Zuhören zu schwinden. Die Entfernung zueinander wächst nicht durch Geografie, sondern durch Gleichgültigkeit. Woher kommt diese Unempfänglichkeit für das Leben der anderen?

Der Unterschied zwischen Wissen und Anteilnahme

Wissen über andere ist allgegenwärtig. Social Media füttert uns täglich mit Einblicken in Lebensläufe, Gewohnheiten, Krisen. Aber aus Information entsteht keine Beziehung. Neugierde kann voyeuristisch sein oder empathisch. Die einen scrollen durch Dramen, ohne zu berühren. Die anderen stellen Fragen, die Raum öffnen. Doch warum verwandelt sich echtes Interesse so oft in Distanz?

Der Schutz vor der Tiefe

Interesse verpflichtet. Wer fragt, muss auch zuhören. Wer zuhört, wird verwundbar. In einer Welt, die Tempo verlangt und Effizienz belohnt, wird emotionale Tiefe zum Risiko. Zeit ist knapp, Zuwendung anstrengend. Der Rückzug ins Eigene wird zur Strategie der Schonung. Doch wenn jeder für sich lebt – was verbindet dann noch?

Die Gegenwart der selektiven Neugier

Nicht alles wird ignoriert. Sensationelles, Ungewöhnliches, Bedrohliches zieht Aufmerksamkeit an. Medien leben von dieser selektiven Neugier. Sie liefern Extreme, verdichten Komplexität zu Überschriften. Gleichzeitig wächst ein gesellschaftliches Bedürfnis, sich abzuschirmen – sowohl technisch als auch mental. Systeme der Lauschabwehr schützen vor dem Zugriff Dritter, während wir innerlich längst verschlossen sind. Wie passt dieser Wunsch nach Abschottung zum gleichzeitigen Bedürfnis, alles sehen zu wollen?

Die Stille als Normalzustand

In Städten wohnen Tausende Tür an Tür, ohne sich zu kennen. In sozialen Netzwerken haben Menschen Hunderte Kontakte, ohne Verbindung. Diese Entfremdung wirkt wie ein Rauschen im Hintergrund – konstant, kaum beachtet, aber spürbar. Die Fragen, die früher selbstverständlich waren – Wie geht es dir? Was beschäftigt dich? – werden seltener gestellt. Fehlt uns der Mut zur Begegnung oder ist das Gegenüber schlicht zu irrelevant geworden?

Die Angst vor dem Anderen

Mit jeder Frage öffnet sich eine Tür. Dahinter könnte Schmerz liegen, Fremdheit, Konflikt. Interesse kann auch bedeuten, sich einzulassen auf das, was man nicht versteht. Doch wer sich auf den anderen einlässt, verliert die Kontrolle über das eigene Narrativ. In einer Zeit, in der Individualität höchste Priorität hat, wird das Ich zur uneinnehmbaren Burg. Was geschieht, wenn niemand mehr bereit ist, sein Innerstes mit dem Außen zu verflechten?

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Viele Menschen fühlen sich in der Anonymität am wohlsten

Der Reiz des Spektakels

Wirkliche Geschichten sind leise. Sie brauchen Nähe, Geduld, Vertrauen. Doch das Spektakuläre übertönt das Subtile. Reality-Shows, True Crime, Promi-Skandale – sie versprechen Einblicke, die keine Nähe erfordern. Wir schauen zu, aber wir fühlen nicht mit. Diese Form der konsumierten Neugierde stellt keinen Bezug her. Ist es dieser Unterschied zwischen Nähe und Zugriff, der erklärt, warum echte Anteilnahme so selten geworden ist?

Die Frage nach Sinn in der Verbindung

Beziehungen basieren auf gemeinsamem Interesse. Doch was geschieht, wenn die Lebensrealitäten so unterschiedlich werden, dass sich kein Anknüpfungspunkt mehr findet? Wenn man den anderen weder bewundert noch beneidet, sondern einfach nicht mehr versteht? Der Rückzug aus dem Sozialen ist nicht immer böse gemeint – oft ist er nur Folge mangelnder Berührungspunkte. Wie kann aus Differenz wieder Relevanz entstehen?

Wenn Neugier zur Haltung wird

Empathische Neugier beginnt nicht mit Wissen, sondern mit Bereitschaft. Es geht nicht darum, Antworten zu erhalten, sondern Fragen zu stellen, die offen sind. Neugierde auf Menschen ist mehr als psychologisches Interesse – sie ist ein Bekenntnis zur Welt. Doch was braucht es in einer erschöpften, überreizten Gesellschaft, damit diese Form der Offenheit nicht untergeht? Und was sagt es über uns aus, wenn uns das Leben der anderen gleichgültig wird?

Die Anatomie der Neugier

Neugier beginnt im Gehirn. Sie ist keine bloße Stimmung, sondern tief verankert in unserem neurologischen Aufbau. Dopamin, das sogenannte Belohnungshormon, spielt dabei eine zentrale Rolle. Sobald wir mit Neuem konfrontiert werden, steigt die neuronale Aktivität in bestimmten Regionen – insbesondere im Nucleus accumbens und im Hippocampus. Je stärker die erwartete Erkenntnis, desto größer das motivationale Verlangen nach Information. Aber wieso verschiebt sich dieses Verlangen so häufig von Mitmenschen auf Dinge?

Epistemische versus empathische Neugier

Psychologische Forschung unterscheidet zwei Hauptformen der Neugier: epistemische und empathische. Erstere zielt auf Faktenwissen, das Lösen von Rätseln, das Verstehen abstrakter Zusammenhänge. Letztere richtet sich auf das Innenleben anderer Menschen – ihre Gedanken, Motive, Sorgen. Beide bedienen unterschiedliche Bedürfnisse. Doch während epistemische Neugier gesellschaftlich gefördert wird, bleibt die empathische oft unbeachtet. Wenn wir mit Wissen glänzen können, aber kaum noch zuhören – was sagt das über unsere Prioritäten aus?

Die Sozialisation der Aufmerksamkeit

Wie Neugier sich entfaltet, wird schon früh geprägt. Kinder, die in einer Umgebung aufwachsen, in der Fragen erlaubt sind und aufmerksames Zuhören vorgelebt wird, entwickeln meist eine stärkere empathische Orientierung. Wer hingegen für Fragen belächelt oder ignoriert wird, verlernt sie. Auch in Bildungssystemen wird oft Wissensreproduktion belohnt, nicht das Infragestellen. Wie verändert das unsere Vorstellung davon, was es wert ist, erkundet zu werden?

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Fragen und Antworten. Eine Abfolge, die scheinbar in Vergessenheit gerät

Der Einfluss der digitalen Welt auf neuronale Präferenzen

Mit der Omnipräsenz von Smartphones und sozialen Medien werden unsere Neugiermechanismen gezielt getriggert. Push-Nachrichten, Klickköder, ständige Updates aktivieren das dopaminerge System ununterbrochen. Doch diese Stimulation ist kurzfristig und konsumorientiert. Sie befriedigt epistemische Neugier in fragmentierter Form, lässt jedoch keinen Raum für Tiefe. Wenn das Gehirn ständig auf Input getrimmt ist – wie entwickelt es dann noch Interesse für andere Menschen mit all ihrer Komplexität?

Neugier als Mittel zur Orientierung

Ursprünglich war Neugier überlebenswichtig. Sie half dabei, Gefahren zu erkennen, Nahrung zu finden, soziale Strukturen zu verstehen. Heute hat sie eine andere Funktion: Sie dient der Selbstvergewisserung. Wer sich informiert, schützt sich vor Kontrollverlust. Doch diese Art der Absicherung ist selektiv. Wir wählen aus, was wir wissen wollen – und meiden, was uns verunsichert. Wenn empathische Neugier als Risiko empfunden wird – wie lässt sich ein Raum schaffen, in dem sie wieder zur Stärke wird?

Der Wandel vom offenen zum bewertenden Blick

Neugierde bedeutet nicht nur, Fragen zu stellen, sondern auch, keine voreiligen Urteile zu fällen. Doch in vielen sozialen Kontexten wird Interesse schnell durch Bewertung ersetzt. Wer anders lebt, denkt oder fühlt, wird nicht gefragt, sondern eingeordnet. Diese Tendenz zur moralischen Sortierung verhindert echte Begegnung. Wie kann ein echtes Interesse entstehen, wenn es immer schon weiß, was es finden will?

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit als Motor

Empathische Neugier entsteht oft dort, wo Beziehung möglich ist. Menschen interessieren sich für Menschen, mit denen sie sich verbunden fühlen – emotional, sozial oder kulturell. Doch in einer Gesellschaft, die stark individualisiert ist, werden solche Verbindungen seltener. Wenn Zugehörigkeit schwindet, schwindet auch das Interesse am Fremden. Aber wie kann Empathie wachsen, wenn das Wir-Gefühl immer schwächer wird?

Der gesellschaftliche Wert des Mitgefühls

Neugier ist nicht nur ein individuelles Merkmal, sondern auch ein sozialer Indikator. Gesellschaften mit hoher sozialer Kohäsion zeigen oft stärkere Ausprägungen empathischer Neugier. Wo Vertrauen herrscht, wächst Interesse. Wo Angst dominiert, sinkt es. In polarisierten Gesellschaften ist der andere nicht mehr neugierig machend, sondern bedrohlich. Wie lässt sich unter solchen Bedingungen ein Klima schaffen, das nicht auf Abwehr, sondern auf Öffnung setzt?

Die Frage nach der Bildungsstrategie

Schulen vermitteln Inhalte, aber selten Haltung. Die Fähigkeit, Fragen zu stellen, zuzuhören, zu reflektieren, wird oft dem Zufall überlassen. Dabei zeigt die Forschung, dass gezielte Förderung von Perspektivübernahme langfristig zu höherer sozialer Kompetenz führt. Wenn Bildung mehr ist als Wissensvermittlung – wie müsste dann ein Lernumfeld aussehen, in dem empathische Neugier gedeihen kann? Und wer übernimmt Verantwortung für diese kulturelle Dimension des Fragens?

Die Verbindung zwischen Mitgefühl und Neugier

Empathie beginnt nicht mit Emotion, sondern mit Aufmerksamkeit. Wer wirklich interessiert ist, stellt keine hypothetischen Fragen, sondern hört auf die leisen Zwischentöne. Neugier auf das Leben anderer schafft Räume, in denen echtes Mitgefühl möglich wird. Doch diese Verbindung ist empfindlich. In einer Zeit, in der Geschwindigkeit über Tiefe triumphiert, wird das aufmerksame Wahrnehmen zur Herausforderung. Wie kann Empathie wachsen, wenn das Zuhören zu einer verlorenen Kunst wird?

Kognitive versus emotionale Empathie

Empathie ist nicht eindimensional. Psychologen unterscheiden zwischen kognitiver Empathie – dem Verstehen der Perspektive eines anderen – und emotionaler Empathie – dem Mitfühlen seiner inneren Welt. Beide Formen bedingen sich, funktionieren aber unterschiedlich. Kognitive Empathie kann trainiert, emotionale Empathie kann überfordert werden. Wer permanent mit Leid konfrontiert ist, stumpft ab oder zieht sich zurück. Wann wird Mitgefühl zur Belastung – und wie lässt sich eine gesunde Balance finden?

Die Evolution des Mitgefühls

Empathie hat auch eine biologische Grundlage. In sozialen Gruppen war das Erkennen und Spiegeln von Emotionen überlebenswichtig. Spiegelneuronen im Gehirn aktivieren ähnliche emotionale Zustände, wenn wir das Leid anderer sehen. Doch dieses System funktioniert nur bei Nähe – räumlich, sozial oder kulturell. Je größer die Distanz, desto schwächer das neuronale Echo. Ist das der Grund, warum wir oft achtlos an Menschen vorbeigehen, deren Schicksal wir eigentlich begreifen könnten?

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Wir sind nicht ganz unglücklich darüber, dass wir mit niemanden interagieren müssen

Der soziale Raum als Spiegel der Verbundenheit

Empathie entfaltet sich im Kontakt. Sie braucht Blick, Stimme, Geste – das Unmittelbare. Digitale Kommunikation hat diesen Raum verändert. Emotionen werden über Textfragmente vermittelt, Reaktionen über Emojis ersetzt. In dieser Reduktion verliert sich das Gefühl für die Tiefe des Gegenübers. Was geschieht mit unserem Einfühlungsvermögen, wenn das Soziale durch Schnittstellen gefiltert wird?

Der moralische Reflex

Empathie kann auch zur sozialen Pflicht werden. Die Gesellschaft erwartet Anteilnahme bei bestimmten Ereignissen, erzeugt kollektive Betroffenheit, ritualisierte Empörung. Doch dieser moralische Reflex erschöpft sich oft in Symbolhandlungen. Likes, Hashtags, Schweigeminuten – sie erzeugen Sichtbarkeit, aber keine Veränderung. Wann wird Mitgefühl zu einer Pose – und wie kann daraus wieder eine echte Haltung entstehen?

Empathie als Ressource

In Berufen mit hoher emotionaler Beanspruchung wird Empathie zur Währung. Pflegekräfte, Therapeutinnen, Lehrkräfte – sie alle arbeiten mit den Gefühlen anderer. Gleichzeitig berichten viele von Erschöpfung, innerer Abgrenzung, emotionalem Rückzug. Empathie ist keine unerschöpfliche Quelle, sondern eine Ressource, die gepflegt werden muss. Wenn wir von Menschen ständige Anteilnahme erwarten – wie sorgen wir dann dafür, dass sie selbst nicht zu kurz kommen?

Das paradoxe Verhältnis zu Schwäche

Empathie ist leicht, solange sie sich auf Erfolgsgeschichten richtet. Schwieriger wird es, wenn sie auf Schmerz, Scheitern oder Fremdheit trifft. Viele reagieren mit Abwehr, wenn ihnen ein anderer seine Verletzlichkeit zeigt. Schwäche verunsichert, konfrontiert mit der eigenen Endlichkeit. Doch gerade hier wäre Neugier gefragt. Wenn wir nur mitfühlen, wenn es uns nicht belastet – wie echt ist unser Interesse dann?

Empathie als kulturelle Kompetenz

Gesellschaften unterscheiden sich in ihrem Umgang mit Emotionen. Während in manchen Kulturen Mitgefühl offen gezeigt wird, gilt es in anderen als Zeichen von Schwäche. Auch die Bereitschaft, sich in das Leben anderer einzufühlen, ist kulturell geprägt. In individualistischen Gesellschaften steht das Selbst oft im Vordergrund, in kollektivistischen das Wir. Wie kann Empathie gelernt und gelebt werden, wenn kulturelle Prägung sie zugleich fördert und begrenzt?

Der Wert des Fragens ohne Antwort

Empathie ist keine Technik. Sie beginnt dort, wo man bereit ist, nicht alles verstehen zu müssen. Wer fragt, ohne sofort zu bewerten, öffnet Räume. Wer zuhört, ohne zu kommentieren, lässt den anderen existieren. Doch diese Haltung ist selten geworden. Die Erwartung, immer eine Meinung haben zu müssen, überlagert das offene Interesse. Wie können wir wieder lernen, Fragen zu stellen, die nicht kontrollieren, sondern erkunden?

Die Architektur der sozialen Aufmerksamkeit

Was lenkt unseren Blick auf bestimmte Menschen und blendet andere aus? Aufmerksamkeit ist selektiv und unterliegt Mustern, die sich über Jahre einschleifen. Nähe, Ähnlichkeit, Relevanz – diese Kriterien beeinflussen unbewusst, wer als interessant wahrgenommen wird. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit verstärkt diese Mechanismen. Wer nicht in bekannte Raster passt, bleibt oft ungesehen. Wenn das Interesse an anderen vom Grad der Ähnlichkeit abhängt – wie lässt sich dann Offenheit für das wirklich Andere kultivieren?

Die Macht der Algorithmen

Digitale Plattformen strukturieren unsere Wahrnehmung mit mathematischer Präzision. Was wir sehen, folgt nicht unserer Neugier, sondern den Regeln der Reichweite. Inhalte, die emotionalisieren, erhalten Sichtbarkeit. Geschichten, die leise sind, verschwinden im Strom. Neugier wird durch Vorhersagen ersetzt, Entdeckung durch Wiederholung. Wenn sich unser Blickfeld durch Algorithmen verengt – wie kann dann noch echte Anteilnahme entstehen?

Die Störung als Schwelle zur Aufmerksamkeit

Oft sind es nicht das Vertraute oder Naheliegende, das Neugier auslöst, sondern das Unerwartete. Doch Überraschung allein genügt nicht, um empathisches Interesse zu wecken. Viele erleben das Unbekannte als Störung, nicht als Einladung. Die Fähigkeit, Irritation in Achtsamkeit zu verwandeln, ist keine Selbstverständlichkeit. Wenn Unverständnis reflexhaft in Ablehnung umschlägt – was braucht es, damit Neugier nicht als Bedrohung empfunden wird?

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Jemanden auf der Strasse zu fragen, wie es ihm geht, ist ungewöhnlich. Aber ist das schlecht?

Normen und Konformität

Soziale Neugier ist nie neutral. Sie wird von Normen gerahmt, von gesellschaftlicher Erwünschtheit gesteuert. Man interessiert sich, wofür man sich interessieren darf. Fragen nach Privatem gelten schnell als unhöflich, Fragen nach Emotionen als übergriffig. Die Grenze zwischen echtem Interesse und Grenzüberschreitung ist fließend. Doch wenn man nicht mehr fragen darf, verliert man die Möglichkeit zu verstehen. Wie viel Konformität verträgt empathische Neugier, bevor sie verstummt?

Die Rolle von Unsicherheit

Wer fragt, weiß nicht. Das Eingeständnis von Nichtwissen ist für viele unangenehm. Neugier bedeutet, sich auf Unsicherheit einzulassen. Doch in einer Leistungsgesellschaft, die auf Kompetenz und Kontrolle basiert, wird diese Offenheit oft als Schwäche ausgelegt. Die Angst, durch Fragen zu entblößen statt zu glänzen, bremst viele aus. Wenn Neugier zur Bedrohung des Selbstbildes wird – wie lässt sich dann eine Kultur des Fragens etablieren?

Erziehung zur Empathievermeidung

Nicht selten wird Kindern beigebracht, sich nicht einzumischen. „Was geht dich das an?“ ist ein Satz, der in vielen Familien fällt. Dabei beginnt empathische Neugier genau dort, wo man bereit ist, sich einmischen zu lassen – vorsichtig, achtsam, offen. Wer nie lernt, dass Fragen Brücken sein können, wird sie später meiden. Wie prägen solche früh gelernten Vermeidungsstrategien unsere Fähigkeit, Verbindung herzustellen?

Medienkonsum und emotionale Abstumpfung

Die Dauerpräsenz menschlichen Leids in Nachrichten, Serien, sozialen Medien erzeugt eine paradoxe Wirkung. Einerseits wird der Horizont erweitert, andererseits die Sensibilität abgeschliffen. Wenn Not allgegenwärtig ist, verliert sie ihre Dringlichkeit. Anteilnahme wird zur Ressource, die man sich einteilt. Doch wo liegt die Grenze zwischen notwendiger Distanz und emotionaler Abstinenz?

Das Ich als Mittelpunkt aller Wahrnehmung

In der Selbstverwirklichungsgesellschaft wird das eigene Erleben zur Hauptbühne. Der Blick auf andere wird sekundär, solange er nicht auf das eigene Selbst zurückstrahlt. Interesse an Mitmenschen wird zunehmend instrumentell: Was hat das mit mir zu tun? Was bringt mir diese Beziehung? Diese Haltung ist kein Zeichen von Egoismus, sondern Folge einer kulturell geformten Logik. Wenn Menschen nur noch relevant sind, wenn sie Nutzen stiften – wie kann dann wieder Raum für zweckfreies Interesse entstehen?

Sehnsucht nach echter Verbindung

Trotz aller Fragmentierung bleibt das Bedürfnis nach echter Begegnung bestehen. Menschen wünschen sich Gespräche, in denen sie nicht nur gehört, sondern verstanden werden. Doch diese Sehnsucht bleibt oft unerfüllt, weil die Fähigkeit zur Neugier nicht geübt wurde. Wer nie gelernt hat, wie man fragt, wird schwer finden, was er sucht. Wenn wir Nähe vermissen, aber das Fragen verlernt haben – wie bauen wir dann die Brücke zurück?

Die Kunst, empathische Neugier bewusst zu kultivieren

Neugier entsteht oft spontan, aber sie lässt sich auch bewusst entwickeln. Empathische Neugier bedeutet, sich dem anderen nicht nur zuzuwenden, sondern sich selbst zurückzunehmen. Es geht darum, wirklich zu erfahren, wie ein Mensch lebt, denkt, fühlt – ohne sofort einzuordnen. In einer Welt, die auf Geschwindigkeit, Meinung und Effizienz basiert, braucht diese Haltung Zeit und Übung. Wenn das Gegenüber mehr ist als eine Geschichte oder ein Konflikt – wie verändert sich dann das Zuhören?

Perspektivwechsel als Training des Mitgefühls

Ein zentraler Schlüssel zur Förderung von Neugier ist der Perspektivwechsel. Wer sich in andere hineinversetzen will, muss seine eigenen Sichtweisen zumindest kurzzeitig verlassen. Das gelingt nicht durch Argumente, sondern durch Erfahrung. Theater, Literatur, Film, echte Gespräche – sie öffnen den Blick für fremde Realitäten. Wenn Empathie geübt werden kann wie ein Muskel – warum fehlt es dann an strukturierten Räumen, in denen diese Praxis möglich ist?

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Empathie ist selten geworden, aber umso wichtiger

Aktives Zuhören als verlorene Fähigkeit

Zuhören ist nicht das passive Abwarten des eigenen Redeanteils, sondern eine aktive Handlung. Es bedeutet, sich einzulassen, die Sprache des anderen auszuhalten, auch wenn sie unbequem ist. Viele Menschen haben verlernt, wirklich zuzuhören, weil sie unterbrechen, bewerten, vergleichen. Wenn aber jedes Gespräch zur Bühne wird – wie kann dann noch ein Raum entstehen, in dem das Fremde sich zeigen darf?

Bildung als Grundlage für emotionale Intelligenz

Empathie und Neugier sind nicht nur soziale, sondern auch bildungsrelevante Fähigkeiten. Schulen und Universitäten könnten Orte sein, an denen emotionale Intelligenz genauso gefördert wird wie analytisches Denken. Doch der Fokus liegt oft auf Leistung, nicht auf Beziehung. Wenn Bildung nur das Ich stärkt, aber nicht das Wir – wie sollen junge Menschen lernen, sich wirklich für andere zu interessieren?

Die Rolle von Kunst und Kultur

Kunst ist ein Spiegel fremder Leben, ein Laboratorium für andere Perspektiven. Literatur erlaubt es, Innenwelten zu betreten, Filme zeigen Wirklichkeiten jenseits der eigenen Erfahrung. Doch auch hier verflacht oft der Blick, wenn Konsum über Reflexion gestellt wird. Wenn Kultur nicht mehr dazu dient, andere Wirklichkeiten erfahrbar zu machen, sondern nur der Ablenkung – verliert sie dann ihre transformative Kraft?

Gemeinsame Räume der Begegnung

Empathische Neugier braucht Orte. Gemeinschaftsprojekte, Bürgerdialoge, Nachbarschaftsinitiativen – sie alle bieten Chancen für echten Austausch. Doch sie sind selten geworden, überlagert von digitalen Ersatzwelten. Menschen leben nebeneinander, aber nicht miteinander. Wenn das Soziale zur bloßen Kulisse wird – wie lässt sich dann wieder echte Verbundenheit herstellen?

Verantwortung der Medien

Auch Medien tragen Verantwortung. Sie entscheiden, welche Geschichten erzählt werden, welche Gesichter sichtbar sind, welche Stimmen gehört werden. Wenn Berichterstattung nur noch polarisiert oder unterhält, wird sie zum Hindernis empathischer Neugier. Menschen hören auf, Fragen zu stellen, weil sie glauben, schon alles zu wissen. Wie könnte eine Berichterstattung aussehen, die nicht nur informiert, sondern Beziehung ermöglicht?

Wo ist die Menschlichkeit geblieben?

Empathische Neugier ist mehr als ein Charakterzug. Sie ist eine Haltung, ein sozialer Wert, ein Gegenmittel gegen Vereinzelung und Gleichgültigkeit. In einer Welt, die Menschen zu Funktionen, Meinungen zu Waffen und Begegnung zu Risiko macht, ist sie ein leises Bekenntnis zur Menschlichkeit. Wenn wir wieder beginnen, einander echte Fragen zu stellen – könnten wir dann auch wieder lernen, wirklich zuzuhören? Und was würde geschehen, wenn wir nicht nur wissen, sondern verstehen wollten?

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